AUTOREN

John L. Bellows, PhD
In seiner am 25. August auf der jährlichen Notenbanker-Konferenz in Jackson Hole gehaltenen Rede konzentrierte sich Jerome Powell, der Vorsitzende der US-Notenbank (Fed), auf den Konjunkturausblick für die relativ nahe Zukunft. Die groben Linien von Powells Ausblick sind bestens bekannt: Die Lage am Arbeitsmarkt entspannt sich gegenüber der vorherigen außergewöhnlichen Anspannung leicht, wenn auch mit recht langsamem Tempo. Die Inflationsrate hat sich im vergangenen Jahr deutlich abgeschwächt und dürfte auch in den kommenden Quartalen zurückgehen. Die Geldpolitik ist auf einen restriktiven Kurs umgeschwenkt und dürfte diesen eine Zeit lang fortsetzen. Powell besprach jedes dieser Themen, wie es gemeinhin erwartet wurde, und hielt kaum Überraschungen bereit.
Bemerkenswerterweise hob Powell in seiner Rede die Analyse der Fed zu den langfristigen neutralen Zinssätzen (üblicherweise auch als „r Stern“ bezeichnet) nicht hervor. In seinen beiden einzigen Kommentaren zu dem Thema äußerte sich Powell vorsichtig: „Wir können den neutralen Zinssatz nicht mit Gewissheit identifizieren“, sagte er, und „wir orientieren uns bei bewölktem Himmel an den Sternen“. Auch wenn dieses Thema in jüngster Zeit in den Finanzmedien aufgegriffen wurde, liegt es derzeit offenkundig nicht im Blickpunkt des Fed-Chefs. Tatsächlich muss man zu seiner vor fünf Jahren an gleicher Stelle in Jackson Hole gehaltenen Rede zurückgehen, um ein vollständigeres Verständnis von Powells Haltung zu diesem Thema zu erlangen. Im Jahr 2018 argumentierte Powell, dass „die Sterne“ für Notenbanker kein besonders hilfreicher Orientierungspunkt seien. Anstatt die Geldpolitik auf Basis dieser theoretischen Begriffe festzulegen, sei es, so Powell damals, in vielen Fällen vorzuziehen, „noch eine Sitzung abzuwarten“, um mehr Daten zu sammeln. Powells Ansatz – pragmatisch und inkrementell – steht im Gegensatz zu vielen aktuellen Äußerungen, die im Ton tendenziell ein wenig atemlos wirken, die aber gleichzeitig sehr starke, auf die lange Sicht abzielende Schlussfolgerungen enthalten.
Wie sollten wir das Herunterspielen eines Begriffs durch Powell, der von der Finanzpresse so breit aufgegriffen wurde, auslegen? Und welche Auswirkungen hat die Rede des Fed-Chefs für die Zukunft der Anleihenmärkte?
Erstens scheint sich Powell der größeren Unsicherheit in Bezug auf den langfristigen Ausblick durchaus bewusst zu sein. Infolgedessen dürfte er sich vor der bei Ökonomen bestens dokumentierten Neigung, aktuelle Wachstumsüberraschungen zu stark und zu weit in die Zukunft hochzurechnen, hüten.1 Womöglich sollten Ökonomen sich besonders bemühen, diese Neigung im gegenwärtigen Umfeld zu unterdrücken, das durch so viele außerordentliche Umstände gekennzeichnet ist, die größtenteils enden und deren Wiederholung überdies unwahrscheinlich ist. Ein Beispiel sei an dieser Stelle genannt: In diesem Jahr haben die Verbraucher den Sturm aus höheren Kosten und niedrigeren Einkommen durch den Rückgriff auf ihre Ersparnisse gemeistert. Auch wenn das in diesem Jahr aufgrund der großen in den Jahren der Pandemie gebildeten Ersparnisse möglich war, dürfte es im kommenden Jahr und gewiss auf lange Sicht nicht möglich sein.
Zweitens dürfte sich Powell bewusst sein, dass Risikoprämien volatil sein können und Änderungen der Risikoprämien häufig mit Wachstumsüberraschungen korrelieren. Dies macht eine Auslegung höherer Anleihenrenditen als Fingerzeig auf eine Änderung der langfristigen neutralen Zinssätze schwieriger. Die letzten Monate präsentierten sich als recht deutliches Beispiel für diese Tendenz. Ende März und Anfang April waren viele Anleger wegen der Turbulenzen bei den Regionalbanken und der damit einhergehenden höheren Rezessionsrisiken in Sorge. In diesem Umfeld waren die Anleihenrenditen ebenso wie die Kurse von Risikoanlagen rückläufig. Da sich das Wachstum über Sommer jedoch als resilient erwies, wurden die Anleger optimistischer, was sich sowohl in höheren Anleihenrenditen als auch in höheren Kursen bei Risikoanlagen niederschlug. Es ist überhaupt nicht klar, inwieweit dies mit Schätzungen des langfristigen wirtschaftlichen Potenzials verbunden war.
Drittens ist sich Fed-Chef Powell zweifelsohne bewusst, dass die Erwartungen in Bezug auf die langfristigen Zinssätze vom kurzfristigen Erfolg der Fed-Maßnahmen abhängen könnten. Der letztliche Erfolg der Fed bei der Verringerung der Inflation könnte die längerfristigen Renditen in zweierlei Hinsicht beeinflussen. Die Inflationserwartungen und die Inflationsrisikoprämie, die in den langfristigen Anleihenrenditen eingepreist sind, werden direkt sinken. Vielleicht noch folgerichtiger werden weitere Rückgänge der Inflation der Fed schließlich erlauben, die realen Zinssätze auf normalere Niveaus zurückzuführen. John Williams, der Präsident der New York Fed, deutete kürzlich an, dass dieser Prozess bereits im nächsten Jahr beginnen könne, sofern sich die Inflation in Richtung des Fed-Zielwerts zurückbewege. Wenn dieser Prozess in Gang kommt, dürften die Marktteilnehmer ihre Erwartungen in Bezug auf die langfristigen realen Zinssätze ebenfalls verringern. Doch zuerst muss sich der Rückgang der Inflation fortsetzen. Powells Fokus auf die nahe Zukunft und sein offenkundiger Widerwille, in eine Diskussion über die ferne Zukunft hineingezogen zu werden, sind daher berechtigt.
Nach unserer Einschätzung legen alle diese Punkte nahe, dass im Anleihenmarkt bei den aktuellen Renditen beträchtliches Wertpotenzial liegen könnte. Die außerordentliche Beschaffenheit des nachpandemischen Umfelds beinhaltet die Warnung, das resiliente Wachstum zu weit und zu stark in die Zukunft hochzurechnen. Darüber hinaus korrelieren Anleihen in diesem Jahr bislang negativ mit Risikoanlagen. Negative Korrelationen sind bei der Konstruktion diversifizierter Portfolios hilfreich und können dies in Phasen des Optimismus und hoch bewerteter Risikoanlagen in besonderer Weise sein. (Die in diesem Jahr zu beobachtende negative Korrelation ist besonders bemerkenswert, da durch ihr Fehlen im Vorjahr bei diversifizierten Portfolios eine unerwartet hohe Volatilität ausgelöst wurde.) Schließlich sind die langfristigen Zinssätze gegenwärtig sowohl im Vergleich zur jüngeren Vergangenheit als auch zu den meisten Schätzungen des Normalzustandes hoch. Dies gilt in besonderer Weise für die langfristigen Realzinsen, welche die Hauptlast der jüngsten Neubewertung zu tragen hatten. Weitere Rückgänge der Inflation auf kurze Sicht – die, wie seine heutige Rede klarmachte, weiterhin im Fokus des Fed-Chefs stehen – dürften mit einem Rückgang ebendieser langfristigen Zinssätze einhergehen.
Definitionen:
Eine Risikoprämie ist die Anlagerendite eines Vermögenswerts, die der Erwartung zufolge über den risikofreien Zinssatz hinausgeht. Sie stellt Zahlungen an die Anleger dafür dar, dass sie das zusätzliche Risiko einer Anlage gegenüber einem risikofreien Vermögenswert tragen. Die Mehrzahl lautet Risikoprämien.
Fußnoten
- Quelle: Farmer, L., Nakamura, E., and Steinsson, J., „'Learning about the long run“,' UC Berkeley, Februar 2023.
WELCHE RISIKEN GIBT ES?
Die Wertentwicklung der Vergangenheit stellt keine Garantie für die zukünftige Wertentwicklung dar. Indizes werden nicht aktiv gemanagt und es ist nicht möglich, direkt in einen Index zu investieren. Gebühren, Kosten oder Ausgabeaufschläge sind in den Indexrenditen nicht berücksichtigt.
Beteiligungspapiere unterliegen Kursschwankungen und sind mit dem Risiko des Kapitalverlusts verbunden. Festverzinsliche Wertpapiere sind mit Zins-, Kredit-, Inflations- und Wiederanlagerisiken sowie mit dem Risiko eines möglichen Verlusts des Kapitalbetrags verbunden. Wenn die Zinssätze steigen, fällt der Wert von festverzinslichen Wertpapieren. Internationale Anlagen sind mit besonderen Risiken verbunden. Hierzu gehören Währungsschwankungen sowie soziale, wirtschaftliche und politische Unsicherheiten, die zu erhöhter Volatilität führen können. Diese Risiken sind in Schwellenländern noch größer. Rohstoffe und Währungen sind mit erhöhten Risiken verbunden, zu denen unter anderem Marktrisiken und politische Risiken, das Regulierungsrisiko sowie Risiken im Zusammenhang mit naturgegebenen Bedingungen gehören, sodass sie unter Umständen nicht für alle Anleger geeignet sind.
US-Staatsanleihen (Treasuries) sind direkte Schuldverschreibungen, die von der US-Regierung begeben werden und durch ihre uneingeschränkte Kreditwürdigkeit und Steuerhoheit abgesichert sind. Die US-Regierung garantiert die Kapital- und Zinszahlungen auf US-Staatsanleihen, wenn die Wertpapiere bis zur Endfälligkeit gehalten werden. Im Gegensatz zu US-Staatsanleihen sind Schuldtitel, die von Bundesbehörden und Gebietskörperschaften begeben werden, sowie damit verbundene Anlagen nicht unbedingt durch die uneingeschränkte Kreditwürdigkeit und Steuerhoheit der US-Regierung abgesichert. Selbst wenn die US-Regierung die Kapital- und Zinszahlungen auf bestimmte Wertpapiere garantiert, betrifft diese Garantie keine Verluste durch einen gesunkenen Marktwert dieser Wertpapiere.
