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Dieser Artikel wurde ursprünglich im LinkedIn Newsletter „Global Market Perspectives“ von Stephen Dover veröffentlicht. Folgen Sie Stephen Dover auf LinkedIn, wo er seine Gedanken und Kommentare sowie seinen Newsletter mit globalen Marktperspektiven veröffentlicht.

Im Transportwesen bezeichnet die „letzte Meile“ den letzten Lieferabschnitt vor der Übergabe an den Empfänger. Kletterer nennen so den schwierigsten Teil des Aufstiegs kurz vor dem Gipfel. Egal, in welchem Zusammenhang: Auf der letzten Meile wird ein lohnenswertes Unterfangen vollendet.

Im Kontext der Inflationsbekämpfung bezieht sich die „letzte Meile“ darauf, dass das Inflationsziel einer Zentralbank erfolgreich und nachhaltig erreicht wird. Für die US-Notenbank Fed, die mit der Straffung ihrer Geldpolitik begann, als die Inflation, gemessen am Kernindex der persönlichen Konsumausgaben, 2022 den Höchstwert von 5,8 % erreichte, steht die letzte Meile für die Herausforderung, die Inflation von der derzeitigen Rate von 3,7 % auf den Zielwert von 2 % zu drücken.

So erstrebenswert das Ziel auch ist, die letzte Meile kann mit erheblichen Kosten verbunden sein. Kletterern wird in der Höhe der Sauerstoff knapp, und die Muskeln schmerzen. Im Transportwesen müssen die Waren aus größeren in kleinere Lkw umgeladen werden; die Kosten sind beträchtlich.

Ist es in der Geldpolitik genauso? Sind die Maßnahmen zur Wiederherstellung der Preisstabilität auf der letzten Meile am teuersten?

Der Fed-Vorsitzende Jerome Powell würde sehr wahrscheinlich mit „Ja“ antworten. Angenommen, das stimmt – sind die Märkte auf die bevorstehenden Härten vorbereitet? Nach den derzeitigen Preisen von Aktien, Anleihen und Währungen zu urteilen, lautet die Antwort „Wahrscheinlich nicht“.

Wie die Fed die letzte Meile einschätzt

Vielleicht die größte makroökonomische Überraschung dieses Jahr war die Resilienz der US-Wirtschaft und des US-Arbeitsmarktes angesichts der aggressiven geldpolitischen Straffungsmaßnahmen, die die Fed seit Anfang 2022 durchführt. Trotz der eindringlichen Warnungen der meisten Ökonomen, die sich auf die klassischen „Frühindikatoren“ einer Rezession (zum Beispiel eine invertierte Zinskurve) stützten, ist der Wirtschaftsmotor unbeirrt weitergelaufen. In den letzten beiden Jahren lag das Wachstum sogar über dem Trend. Die Zahl der neu geschaffenen Stellen ist schneller gestiegen als die Erwerbsbevölkerung,1 sodass die Arbeitslosigkeit so niedrig ist wie seit fünf Jahrzehnten nicht mehr.

Die über alle Maßzahlen hinweg sinkende Inflation (Kerninflation, Gesamtinflation, Verbraucherpreise, Löhne und Gehälter) ist mit einem starken Wachstum und einem angespannten Arbeitsmarkt einhergegangen. Warum also sollte die letzte Meile bis zum Erreichen des 2-Prozent-Inflationsziels der Fed schmerzhaft sein?

Das ist eine wichtige Frage. Im letzten Jahr lautete die konsistente Botschaft der Fed, dass ein Inflationsrückgang auf den Zielwert eine Phase mit unter dem Trend liegendem Wachstum erfordern würde. Mit anderen Worten, die Fed glaubt, dass eine gewisse Flaute in der Gesamtwirtschaft und insbesondere auf dem Arbeitsmarkt notwendig ist, damit die Inflation wie gewünscht nachhaltig zurückgeht.

Dieses Konzept beruht auf einer vermeintlichen empirischen Gesetzmäßigkeit, über die im Jahr 1958 zuerst der neuseeländische Ökonom William Phillips geschrieben hat. Die nach ihm benannte „Phillips-Kurve” soll eine Wechselbeziehung zwischen Inflation und Arbeitslosigkeit zeigen. So soll eine sehr geringe Arbeitslosigkeit mit einer hohen und steigenden Inflation einhergehen und die Inflation in der Regel sinken, wenn die Arbeitslosigkeit hoch ist.

Die Phillips-Faszination der Fed

Powell hat klar gesagt, dass eine gewisse wirtschaftliche Flaute wahrscheinlich notwendig ist, um eine langanhaltend niedrige Inflation zu erreichen. Als er kürzlich vor dem Economic Club of New York sprach, erklärte der Fed-Vorsitzende:

… die Daten der Vergangenheit legen nahe, dass eine nachhaltige Rückkehr zu unserem 2-Prozent-Inflationsziel wahrscheinlich eine Phase mit unter dem Trend liegendem Wachstum und eine weitere Entspannung der Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt erfordern wird."²

Mindestens zwei Aspekte dieser Aussage sind jedoch merkwürdig. Erstens besteht über die letzten 65 Jahre betrachtet kein statistisch bedeutsamer Zusammenhang zwischen der Inflation und der Arbeitslosigkeit in den USA, wie Abbildung 1 zeigt. Ein solcher Zusammenhang ist selbst dann nicht erkennbar, wenn die Daten um eine Verzögerung zwischen Arbeitslosigkeit und Inflation bereinigt werden oder wenn die Differenz zwischen der tatsächlichen Arbeitslosigkeit und der geschätzten Gleichgewichtsquote einbezogen wird.

Abbildung 1: US-Kern-VPI und Arbeitslosigkeit

Phillips-Kurve: 1958–2023

Quelle: Wirtschaftsdaten der Federal Reserve, Economic Research Division, Federal Reserve Bank of St. Louis. Stand: September 2023.

Zweitens sieht Powell anscheinend darüber hinweg, dass – wie bereits erwähnt – die US-Maßzahlen der Kern- und Gesamtinflation wie auch die Inflation der Löhne und Gehälter über die letzten zwölf Monate allesamt deutlich gesunken sind, ohne dass die Wirtschaft eine Zeit lang langsamer als der Trend gewachsen wäre – ganz zu schweigen von einem wesentlichen Anstieg der Arbeitslosigkeit.

Warum beharrt die Fed also darauf, dass ein Wachstum unter dem Trend und eine höhere Arbeitslosigkeit erforderlich sein werden, um das Inflationsziel von 2 % zu erreichen?

Wahrscheinlich wird das Denken der Fed von mehreren Faktoren beeinflusst.

  • Erstens wird von vielen Beobachtern angenommen, dass der Rückgang der Inflation sich verlangsamen oder sogar zum Stillstand kommen wird, bevor das 2-Prozent-Ziel erreicht ist. Diese Einschätzung wird zum Teil durch aktuelle Daten unterstützt. Ein Bereich, der derzeit Anlass zu entsprechenden Sorgen gibt, ist die hartnäckige Inflation bei den Dienstleistungen (ohne Mieten).
  • Zweitens hat die Inflation der Löhne und Gehälter zwar nachgelassen, die aktuelle Rate von 4,4 % (bei den durchschnittlichen Stundenlöhnen) bzw. 4,3 % (auf Basis des Beschäftigungskostenindex) gilt jedoch als zu hoch, um mit einer Kernpreisinflation von 2 % vereinbar zu sein. Wenn zum Beispiel der Trend des Produktivitätswachstums bei durchschnittlich 1 % pro Jahr liegt (eine angemessene Schätzung), dann müsste zur Erreichung der Preisstabilität die Inflation der Löhne und Gehälter (und der Sozialleistungen) um einen weiteren Prozentpunkt sinken.
  • Drittens geht aus Abbildung 2 hervor, dass es eine Wechselbeziehung gemäß der Phillips-Kurve geben könnte, wenn die Arbeitslosenquote unter 4,5 % fällt. Dies ist im Diagramm an der geschwungenen Linie zu erkennen, die die beste Korrelation zeigt. Ist dies der Fall, dann müsste die Arbeitslosenquote vom aktuellen Niveau (3,7 %) etwas steigen, damit die Inflation die letzte Meile ihres Abwärtspfads zurücklegt. Tatsächlich ergibt sich bei der Anwendung von Regressionstechniken zur Ermittlung der Korrelation zwischen Arbeitslosigkeit und Inflation bei einer Arbeitslosenquote unter 4,5 %, dass bei jedem Anstieg der Arbeitslosenquote um 0,1 % die Kerninflation des Verbraucherpreisindex gegenüber dem Vorjahr um 0,3 % sinkt.

Abbildung 2: Phillips-Kurve und beste Korrelation bei einer US-Arbeitslosenquote unter 4,5 %

Phillips-Kurve: 1958–2023

Quelle: Wirtschaftsdaten der Federal Reserve, Economic Research Division, Federal Reserve Bank of St. Louis. Stand: September 2023.

  • Viertens scheint die Verlustaversion der Fed hinsichtlich einer über dem Zielwert liegenden Inflation größer zu sein als in Bezug auf eine übermäßige Arbeitslosigkeit. Das ist teilweise auf Sorgen über die langfristige Glaubwürdigkeit zurückzuführen. Schießt die Inflation anhaltend über ihr Ziel hinaus, steigen möglicherweise die langfristigen Inflationserwartungen – eine Entwicklung, deren Umkehr teuer werden könnte. Außerdem könnte die asymmetrische Verlustaversion der Fed auch eine Folge der harschen Kritik sein, die die Notenbank einstecken musste, als sie 2021 erklärte, die Inflation wäre „vorübergehend“. Diesen Fehler in der Kommunikation möchte sie nicht wiederholen.

 

Bedeutung für die Märkte

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Fed entschlossen scheint, ausreichend restriktive geldpolitische Voraussetzungen und Finanzbedingungen aufrechtzuerhalten, bis das Wirtschaftswachstum unter die Trendrate sinkt und die Arbeitslosigkeit steigt. Mehr noch: Sie scheint bereit zu sein, die Zinsen noch weiter anzuheben, wenn diese angestrebten Ergebnisse nicht bald erreicht werden.

Entsprechend diese Ergebnisse den derzeitigen Erwartungen des Marktes? 

In Bezug auf US- und globale Aktien stellt das Basisszenario der Fed die vorherrschenden Gewinnerwartungen infrage. Unternehmensanalysten haben ihre Prognose für die Gewinne der S&P-500-Unternehmen im Jahr 2024 nach oben korrigiert: Die Konsenserwartung ist nun ein Anstieg um 11,9 %.3 Wenn das Wachstum jedoch nächstes Jahr unter den Trend sinkt, dürften die Gewinne annähernd gleich bleiben, wenn überhaupt. Sollte die Wirtschaft in eine Rezession abgleiten, könnten die Gewinne deutlich zurückgehen.

Die US-Anleiherenditen sind in jüngster Zeit gesunken. Durch den Einfluss von Wachstumsüberraschungen und das hohe Emissionsvolumen bei Staatsanleihen liegen sie jedoch immer noch einen ganzen Prozentpunkt über dem Niveau vom Anfang des Jahres. Wenn das Wachstum der US-Wirtschaft in den nächsten Quartalen ins Straucheln gerät, dürften die Anleiherenditen noch weiter sinken.

Nicht zuletzt hat der US-Dollar 2023 stark aufgewertet. Grund dafür sind die höheren US-Anleiherenditen und das stärkere Zinsgefälle gegenüber anderen Ländern. Diese beiden Säulen der Unterstützung fallen weg, wenn die Fed ihren Willen bekommt, was wahrscheinlich zu einer Abschwächung des Dollars im Jahr 2024 führt.

Fazit: Die Anleger könnten unterschätzen, wie entschlossen die Fed ist, zur Erreichung ihres Inflationsziels ein unter dem Trend liegendes Wirtschaftswachstum und steigende Arbeitslosigkeit herbeizuführen. Eine Rezession, die härter ausfällt als erwartet, ist wahrscheinlich. Daher erscheinen uns die US-Aktienmärkte und der Dollar anfällig. Die ersten fünf Jahre auf der Renditekurve für US-Staatsanleihen sind aus unserer Sicht noch zu optimistisch im Hinblick auf eine Lockerung der Geldpolitik. Zinssenkungen werden wahrscheinlich später und langsamer erfolgen als derzeit im Markt eingepreist. Das lange Ende der Zinskurve (zehn Jahre und mehr), das empfindlicher auf das langfristige Wachstum, die Inflation und die finanziellen Auswirkungen eines langen Straffungszyklus der Fed reagiert, bietet nach unserer Einschätzung besseres Wertpotenzial, da die Entschlossenheit der Fed die mittelfristigen Wachstums- und Inflationserwartungen dämpfen dürfte.

Die letzte Meile ist oft die schwierigste. Wir hoffen zwar, dass die US-Geldpolitik entgegen dieser Weisheit nicht zu erheblichen wirtschaftlichen Härten führt, doch wir wissen, dass Hoffnung keine Strategie ist. Es könnte sein, dass sich die Anleger auf einen schwierigen letzten Aufstieg gefasst machen müssen.

Stephen Dover, CFA
Chief Investment Strategist
Head of Franklin Templeton Institute



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