AUTOREN

Stephen Dover, CFA
Chief Investment Strategist
Head of Franklin Templeton Institute
Dieser Artikel wurde ursprünglich am 29. August 2023 in Barron’s veröffentlicht.
Die Widerstandsfähigkeit des Wachstums, der Unternehmensgewinne und der Märkte in den USA ist die große Überraschung des Jahres 2023. Nach mehr als einem Jahr aggressiver Zinserhöhungen durch die US-Notenbank Federal Reserve (Fed) hätten zu Beginn des Jahres nur wenige geglaubt, dass die USA eine Rezession vermeiden, die Gewinnerwartungen der US-Unternehmen steigen und die wichtigsten Aktienindizes eine kräftige Erholung erleben würden.
Es wird vielfach versucht, diese Phänomene zu erklären. Ein Faktor, der dabei jedoch oft übersehen wird, ist die Verschuldung des privaten Sektors in den USA. In den letzten 15 Jahren hat sich die Verschuldung der privaten Haushalte und des Unternehmenssektors in den USA erheblich verändert, und zwar so, dass die Wirtschaft, die Gewinne und die Aktienbewertungen weniger sensibel auf die Geldpolitik reagieren als zu irgendeinem anderen Zeitpunkt seit mehr als einer Generation.
In diesem Artikel konzentrieren wir uns auf die Verschuldung der Unternehmen. Allerdings ist anzumerken, dass sich auch die Kreditmuster der privaten Haushalte seit der globalen Finanzkrise stark verändert haben. Gemessen am Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist die Gesamtverschuldung der privaten Haushalte seit 2008 um fast ein Drittel gesunken. Die Kreditvergabebedingungen wurden verschärft, sodass die Zahl der risikobehafteten Haushalte, die einen Kredit aufnehmen können, zurückgegangen ist. Auch die Höhe der Kredite, die ihnen angeboten werden, ist gesunken. Ein weiterer wichtiger Faktor: Bei der Art der aufgenommenen Hypothekenkredite zeichnet sich eine Verlagerung ab, von Darlehen mit variablen oder anpassbaren Zinssätzen zurück zu klassischen Hypotheken mit 30-jähriger Zinsbindung. Dadurch hat sich der zeitliche Abstand zwischen den kurzfristigen Zinserhöhungen der Fed und der Veränderung der Schuldendienstkosten der privaten Haushalte vergrößert.
Allein diese Faktoren erklären schon, warum sich die US-Wirtschaft und die Verbraucherausgaben besser gehalten haben als viele zu Beginn des Jahres 2023 erwartet hatten. Ein robuster Arbeitsmarkt, der durch die Wiedereinstellung von Arbeitskräften nach der COVID-19-Pandemie gestützt wurde, ein Mangel an Arbeitskräften im erwerbsfähigen Alter und fiskalpolitische Konjunkturmaßnahmen haben ebenfalls erheblich zur Widerstandsfähigkeit der Nachfrage beigetragen.
Für Wirtschaftswissenschaftler, politische Entscheidungsträger und Anleger ist jedoch eine andere Entwicklung im Zusammenhang mit der Verschuldung von Interesse: das Ausbleiben erkennbarer Auswirkungen steigender Zinsen auf die Rentabilität der Unternehmen. Diese Entwicklung verdient größere Aufmerksamkeit, da sie wichtige Auswirkungen auf Wachstum, Gewinne und Eigenkapital sowie auf die Entwicklung der Kreditmärkte hat.
Was hat sich verändert?
Wie bei den privaten Haushalten hatte die globale Finanzkrise auch bei Unternehmen erhebliche Veränderungen im Hinblick auf die Kreditaufnahme zur Folge. Wenngleich der Schuldenabbau bei den Unternehmen seit der globalen Finanzkrise insgesamt moderater war als bei den privaten Haushalten, ist bei den Kreditlaufzeiten eine ähnliche Entwicklung zu beobachten. Konkret war eine der Folgen der globalen Finanzkrise, dass die Abhängigkeit der Unternehmen von kurzfristigen Krediten wie Commercial Papers oder Bankkrediten verringert und durch öffentliche und private Kreditinstrumente mit längeren Laufzeiten und festen Konditionen ersetzt wurde.
So belief sich der Markt für Commercial Papers beispielsweise Mitte 2007 auf rund 2,2 Bio. USD. Im August 2023 hingegen beträgt das Volumen nur noch knapp 1,2 Bio. USD.1 Im gleichen Zeitraum sind die US-Märkte für Investment-Grade- und Hochzinsanleihen von 2,1 Bio. USD auf 7,8 Bio. USD bzw. von 0,7 Bio. USD auf 1,2 Bio. USD angewachsen.2 Bei Privatkrediten ist weltweit ein Plus von 1 Bio. USD zu verzeichnen.3 Diese Darlehen sind überwiegend festverzinslich, und die Laufzeiten in diesen drei Anlagekategorien liegen im Durchschnitt zwischen 4 und 10 Jahren.
Dementsprechend hat sich der zeitliche Abstand zwischen steigenden Zinsen (aufgrund der Straffung der Geldpolitik durch die Fed) und zunehmenden Kosten für den Schuldendienst der Unternehmen vergrößert. Die Folge: Der Unternehmenssektor ist aufgrund struktureller Veränderungen in der Unternehmensfinanzierung bislang von den härtesten Auswirkungen der ansonsten aggressiven Zinserhöhungen der Fed seit Anfang 2022 verschont geblieben.
Aber das ist noch nicht alles. Wie die jüngsten Daten aus der Berichtssaison für das zweite Quartal 2023 zeigen, melden Unternehmen aus vielen Branchen trotz des Anstiegs der Zinssätze für alle Laufzeiten einen Rückgang des Nettozinsaufwands. Wie ist das möglich?
Die invertierte Zinsstrukturkurve, bei der die kurzfristigen Zinsen über den langfristigen Sätzen liegen, liefert einen Teil der Antwort. Unternehmen, die dank solider Erträge und umsichtiger Investitionsausgaben über hohe Liquiditätsreserven verfügen, erzielen höhere Zinserträge, indem sie ihr Geld in kurzfristigen Schuldverschreibungen anlegen. Gleichzeitig sind ihre Zinskosten gering, da sie sich durch längerfristige Kredite niedrigere Zinsen gesichert haben. Der Unternehmenssektor profitiert also von der Umkehr der Zinsstrukturkurve.
Dieser Faktor erklärt, warum der Nettozinsaufwand in Prozent des Nettogewinns in fast allen Sektoren des S&P 500 Index (mit Ausnahme von Basiskonsumgütern und Gesundheitswesen) heute niedriger ist als vor 20 Jahren. Für den S&P 500 insgesamt beträgt der Anteil der Nettozinsaufwendungen am Nettogewinn heute nur noch rund 40 % des Niveaus von 2003.4
Das Ergebnis sind höhere Gewinne, die die Aktienkurse steigen lassen, und ein Unternehmenssektor, der eine Straffung der Geldpolitik durch die Fed besser verkraftet.
Doch kann diese glückliche Situation von Dauer sein? Auf lange Sicht nicht. Früher oder später müssen neue Kredite aufgenommen und fällige Schulden verlängert werden. Wenn die Kreditkosten hoch bleiben, werden die guten Zeiten ein Ende haben.
Der Schutzschirm für die Verschuldung der Unternehmen könnte jedoch noch für längere Zeit bestehen bleiben. Der Grund dafür ist die deutliche Verlängerung der Laufzeiten bei vielen Unternehmen in verschiedensten Branchen. So ist der Anteil der Investment-Grade-Anleihen, die nach 2028 fällig werden, seit Ende 2020 von rund 48 % auf 56 % gestiegen.5 Noch deutlicher ist dieser Trend bei Hochzinsanleihen (unterhalb der Investment-Grade-Kategorie), wo der Anteil der Finanzierungen, die über das Jahr 2028 hinausgehen, von 20 % auf rund 42 % des Marktes gestiegen ist.6 Sollten die Zinsen bis dahin sinken (was angesichts der rückläufigen Inflation wahrscheinlich ist), dürften die Unternehmen in der Lage sein, sich vor Fälligkeit ihrer Schulden zu günstigeren Konditionen zu refinanzieren.
Es ist ebenfalls interessant zu sehen, in welchen Bereichen diese Entwicklungen besonders ausgeprägt sind. Auf den Märkten für Investment-Grade-Anleihen waren Finanztitel mit einem Anstieg von 50 % bei längerfristigen Papieren die Spitzenreiter.7 Die Sektoren Energie und Technologie haben einen Anstieg von über 25 % verzeichnet.8 Am anderen Ende des Fremdkapitalspektrums gab es im Gesundheitssektor keine vergleichbare Verschiebung der Fälligkeit der Schulden, was möglicherweise dazu geführt hat, dass die Nettozinsausgaben in den letzten Quartalen einen größeren Anteil am Nettogewinn ausgemacht haben.
Die Tatsache, dass die Gewinne von den Auswirkungen der geldpolitischen Straffung durch die Fed abgeschirmt wurden, erklärt das anhaltende Interesse der Unternehmen an Neueinstellungen. Dies deutet zudem auf eine positive Rückkopplungsschleife zwischen Gewinnen, Beschäftigung und Nachfrage hin, die zwar nicht von Dauer ist, aber das US-Wirtschaftswachstum bis weit in das Jahr 2023 hinein gestützt hat.
Wenn dies der Fall ist, hat die Widerstandsfähigkeit von Erträgen und Wachstum eine weitere wichtige Konsequenz für Anleger, nämlich ein geringeres Ausfallrisiko. Das Kreditrisiko ist vielschichtiger. Einzelne Ausfälle sind weiterhin möglich, und einige werden sicherlich unvermeidbar sein. Aber sofern die Kreditmärkte nicht vollständig einfrieren, dürften die Ausfallraten der Unternehmen in diesem Zyklus insgesamt niedriger ausfallen als in früheren Zyklen.
Was sind die wichtigsten Konsequenzen für Anleger?
- Erstens sollten wir uns vor Rezessionsprognosen hüten, die ausschließlich auf historischen Vergleichswerten aufbauen. Die Verschuldung des privaten Sektors in den USA hat sich seit der globalen Finanzkrise in Bezug auf Höhe, Struktur und Laufzeit erheblich verändert, und die meisten dieser Veränderungen haben die Wirtschaft stabiler und widerstandsfähiger gemacht.
- Zweitens dürften sich die Zinsen bei weiter sinkender Inflation und moderatem Wachstum bereits in der Nähe ihrer Höchststände befinden. In dem Maße, wie sie gegenüber diesem Niveau zurückgehen, werden die Unternehmen in der Lage sein, sich zu günstigeren Konditionen zu refinanzieren. Für viele von ihnen ist die Zeit auf ihrer Seite, da sie sich längere Laufzeiten gesichert haben.
- Drittens sollten Anleger darauf vorbereitet sein, mögliche Schwächephasen an den Kreditmärkten zu nutzen, um von den verbesserten Fundamentaldaten von Unternehmensanleihen zu profitieren. Dies erfordert natürlich eine sorgfältige Abwägung, in welchen Fällen ein idiosynkratrisches Kreditrisiko gerechtfertigt ist, aber unseres Erachtens ist ein vorsichtiger „Buy-the-Dips“-Ansatz durchaus gerechtfertigt.

Stephen Dover, CFA
Chief Market Strategist,
Franklin Templeton Institute
Fußnoten
- Quellen: US Securities and Exchange Commission, Federal Reserve. Stand: 9. August 2023.
- Quelle: ICE BofA Indizes. Stand: 9. August 2023. Indizes werden nicht gemanagt und es ist nicht möglich, direkt in einen Index zu investieren. Sie enthalten keine Gebühren, Kosten oder Ausgabeaufschläge.
- Quelle: PitchBook 2022 Annual Global Private Debt Report. Stand 31. Dezember 2022.
- Quellen: Analyse des Franklin Templeton Institute, FactSet. Stand: 30. Juni 2023.
- Quellen: Analyse von Franklin Templeton Institute, ICE BofA-Indizes. Stand: 10. August 2023. Indizes werden nicht gemanagt und es ist nicht möglich, direkt in einen Index zu investieren. Sie enthalten keine Gebühren, Kosten oder Ausgabeaufschläge.
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