AUTOREN

Matthias Hoppe
SVP/Head of EMEA Portfolio Management
Franklin Templeton Investment Solutions
Die Nachricht, dass Macron nach der Europawahl und dem Erstarken des Rassemblement National (RN) das Parlament auflöst und Neuwahlen ansetzt, kam völlig überraschend – und ließ viele ratlos zurück. Die Wahlkampfstrategie des RN, die Europawahl zu einem Votum über die Präsidentschaft Macrons und die Regierung seines Premierministers Gabriel Attal zu machen, scheint aufgegangen zu sein.
Die Marktreaktion ließ nicht lange auf sich warten. Der Aktienmarkt, gemessen am heimischen CAC 40 Index, verlor in wenigen Tagen rund 7 %. Aber auch Staats- und Unternehmensanleihen mussten Federn lassen. Insbesondere der Spread zwischen den Renditen 10-jähriger französischer und deutscher Anleihen ist um mehr als 30 Basispunkte auf etwa 80 Basispunkte gestiegen – so hoch wie seit 2017 nicht mehr.
Spread französischer Staatsanleihen (10-jährige Laufzeit)
Die Renditedifferenz (Spread) zwischen den Renditen 10-jähriger französischer und deutscher Anleihen ist um mehr als 30 Basispunkte gestiegen. Dabei hatte Frankreich jahrelang das Privileg, Schulden aufnehmen zu können, zu ähnlichen Konditionen wie Deutschland – trotz höherer Staatsdefizite und einer hohen Verschuldung des privaten Sektors.

Quelle: LSEG Datastream
Daten vom 21.06.2016 bis 26.06.2024
Noch wenige Tage vor der Wahl hatte die Ratingagentur S&P Frankreichs Bonität von AA auf AA- herabgestuft. Die Märkte zeigten sich davon unbeeindruckt, obwohl die Gutachterinnen und Gutachter unter anderem die verfehlten Haushaltsziele Frankreichs kritisierten. Für Macron, der sich als Reformer der Wirtschaft präsentiert hatte, war dies ein Rückschlag.
Doch erst das politische Pokerspiel des Präsidenten löste eine spürbare Reaktion an den Märkten aus. Investorinnen und Investoren befürchten, dass entweder die extreme Rechte oder die extreme Linke nach zwei Wahlgängen am 30. Juni und 7. Juli eine Mehrheit erlangen und sich durch ihre Wahlversprechen Frankreichs fiskalische Lage verschlimmern wird. Beide Seiten versprachen unter anderem eine Rücknahme der Rentenreform, wobei die Rechten eine Senkung der Mehrwertsteuer versprachen, die Linken das Einfrieren der Nahrungsmittel- und Energiepreise.
Bei Redaktionsschluss stand das Ergebnis des zweiten Wahlgangs noch nicht fest. Aber für die Europäische Komission, die gerade neue fiskalpolitische Regeln einführt, wird jedes Endergebnis zum Problem. Und falls die lockere Fiskalpolitik den Inflationsdruck erhöht oder sich die Spreads weiter ausweiten sollten, steht auch die Europäische Zentralbank (EZB) vor einem Dilemma.
Bereits vor der Europawahl waren Frankreichs Finanzen alles andere als solide. Aber seit der globalen Finanzkrise von 2008 hatte das Land das bemerkenswerte Privileg, Schulden zu ähnlichen Konditionen wie Deutschland aufnehmen zu können – trotz höherer Staatsdefizite und einer hohen Verschuldung des privaten Sektors. Laut der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich beträgt der Anteil der gesamten nichtfinanziellen Kredite in Frankreich rund 320 % des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Einer der höchsten Werte unter den Industrienationen. Darin enthalten sind 210 % Verschuldung des privaten nichtfinanziellen Sektors und 110 % Staatsverschuldung – statt der für EU-Länder zugelassenen Grenze von 60%. Die Schuldenquote des französischen Staates ähnelt nun eher der der Vereinigten Staaten – bei deutlich weniger dynamischer Wirtschaftsleistung.
Insofern spiegelt die Ausweitung der Spreads französischer Staatsanleihen (OATs) die wachsende Unsicherheit und das erhöhte fiskalische Risiko wider. Obwohl die Renditedifferenz zugenommen hat, liegt sie noch unter dem Niveau der Eurokrise 2010. Dabei ist ein Teil des Anstiegs auch auf die sinkenden Renditen deutscher Bundesanleihen zurückzuführen. OATs sind jedoch wegen ihrer Liquidität und des hohen Volumens ausstehender Anleihen für das Funktionieren des europäischen Geldmarktes von Bedeutung.
Eine Wiederholung der europäischen Schuldenkrise à la 2010, wie sie insbesondere angelsächsische Investorinnen und Investoren prophezeien, scheint aber eher unwahrscheinlich. Frankreichs bisheriges Privileg innerhalb der Eurozone wird derzeit zwar auf die Probe gestellt. Dennoch ist das wahrscheinlichste Ergebnis einer Konfrontation zwischen dem möglicherweise an der Regierung beteiligten RN und Brüssel ein akzeptabler Kompromiss. Die Regierung von Giorgia Meloni in Italien könnte als Vorbild dienen. Sie scheint ihre politischen Prioritäten so zu gestalten, dass sie das vorteilhafte Momentum der Wirtschaft optimal nutzt, anstatt es zu untergraben.
Auch hat sich der politische Rahmen der Eurozone seit 2010 deutlich verbessert. Die Europäische Zentralbank (EZB) verfügt über mehr Instrumente, um die Geldmärkte zu stabilisieren und die Geldpolitik im gesamten Euro-Währungsgebiet zu gewährleisten. Theoretisch könnte die EZB einschreiten und gezielt französische Anleihen aufkaufen, um so die Renditen zu drücken. Doch bei einer selbstverschuldeten politischen Krise wäre dies ausgeschlossen – so hielt es die EZB etwa auch in der Griechenland-Krise. Eine Intervention ist auch angesichts des von der EU-Kommission geplanten Defizitverfahrens unwahrscheinlich.
Die Ausweitung der französischen Spreads ist somit kein Kaufsignal für OATs. Die Reaktion erscheint keineswegs ungerechtfertigt. Dabei ist es wahrscheinlich, dass die Unsicherheit noch weiter anhalten wird. Selbst jetzt nach Bekanntgabe des Wahlergebnisses könnte es dauern, bis eine Regierung gebildet ist und die Auswirkungen der neuen Regierungspolitik vollständig erfasst werden können. Daher scheint eine baldige Erholung der französischen Vermögenswerte unwahrscheinlich.
Aber droht die Situation in Frankreich die schüchterne Erholung im Rest Europas zu gefährden? Nachdem die Eurozone 2023 kein Wirtschaftswachstum vorweisen konnte, gibt es dieses Jahr erste Anzeichen für eine Besserung. Zum Beispiel zeigt der Einkaufsmanager-Index, ein Frühindikator, in den vergangenen Monaten – mit Ausnahme des Junis – eine stetige, wenn auch leichte Verbesserung an. Insbesondere der Dienstleistungssektor konnte zum ersten Mal seit Juli vergangenen Jahres zulegen. Und so hat auch die Schar der Ökonominnen und Ökonomen, die von Bloomberg befragt werden, die Wachstumsprognosen nach oben korrigiert. Europa scheint also den Tiefpunkt überstanden und eine Rezession abgewendet zu haben.
Unterdessen setzt sich die Disinflation fort, auch wenn der Verbraucherpreisindex für die Eurozone im Mai nochmal leicht anstieg. Die Daten haben es der EZB ermöglicht, die Zinsen am 6. Juni, wie erwartet, zu senken – noch vor der Federal Reserve in den USA. Mit einer Reduzierung um 25 Basispunkte hat sie den Zyklus der Zinssenkungen eingeleitet. Unsere Erwartung ist eine langsame Abfolge von Zinssenkungen um jeweils 25 Basispunkte pro Quartal. Die Haltung der EZB ist, dass zukünftige Schritte von den Wirtschaftsdaten abhängen werden.
Inflationsrate Eurozone:
Noch Abwärtspotenzial bei der Kerninflation
Die Disinflation setzt sich fort. Obwohl der Verbraucherpreisindex für die Eurozone im Mai wieder leicht anstieg, senkte die EZB im Juni die Zinsen.

Veränderungsrate im Jahresvergleich
1. Ohne Nahrungsmittel, Alkohol und Tabak
2. inkl. Alkohol und Tabak
Quelle: LSEG Datastream. Daten vom 31.05.2019 bis 31.05.2024
Eine allmähliche Erholung der Wirtschaft dürfte aber keine erneute Beschleungung der Inflation antreiben, da es insbesondere im verarbeitenden Gewerbe ausreichend freie Kapazitäten gibt. Die Notenbank scheint darauf zu vertrauen, dass sich die Inflation in der zweiten Jahreshälfte weiter normalisiert.
Die aktuelle Lage am Arbeitsmarkt ist weiterhin gut, entsprechend stark steigen die Einkommen – nominal und real, also inflationsbereinigt. Der von der EZB ermittelte Index zum Lohnwachstum erreichte zwar im letzten Jahr seinen Höhepunkt, zeigt jedoch weiterhin eine starke Dynamik.
Hohe Inflation ging in der Vergangenheit oft mit gedämpfter Verbraucherstimmung und geringeren Konsumausgaben einher. Bei Disinflation könnte eine Verbesserung dieser beiden Faktoren sich daher positiv auf das Wirtschaftswachstum auswirken. In der EU hat sich die Verbraucherstimmung mit dem Nachlassen des Energiepreisschocks in den letzten Monaten kontinuierlich verbessert, liegt aber immer noch unter dem Niveau vor der Pandemie. Allerdings halten sich die Haushalte mit Ausgaben noch zurück und die Sparquote bleibt hoch. Es ist zu erwarten, dass das Sparverhalten nachlässt, sobald die wirtschaftliche Erholung an Fahrt gewinnt und das Verbrauchervertrauen steigt. Sollte jedoch die Unsicherheit aus Frankreich auf andere Länder übergreifen, könnte das vorsichtige Sparverhalten weiterhin bestehen bleiben und die schwache Erholung in der Eurozone torpedieren.
Europa dürfte auch noch nach der Fußballmeisterschaft Schlagzeilen machen. Ich befürchte, angesichts der Komplikationen auf dem Kontinent dürften internationale Investoren weiter einen skeptischen Ausblick beibehalten. Für europäische Vermögenswerte nicht gerade förderlich.
